Schönes Wetter in Irland muss man immer ausnützen. So raffen wir uns am Abend nochmals auf und fahren zur Murlough Bay. Ein kurzer Besuch bei einer Bucht passt sicher noch rein, zumal es im Sommer eine Weile dauert, bis es dunkel wird. Auf dem Weg in Richtung der Landzunge Torr Head ist die Murlough Bay gut ausgeschildert. Einzig das Schild »Unsuitable for heavy goods vehicles« hätte uns stutzig machen sollen. Wir hatten ja bewusst ein kleines Auto gemietet, sodass wir überall durchpassen und in den Städten immer eine Parklücke finden. Bald jedoch rumpeln wir über ein Viehgatter und wird die Straße zunehmend unangenehm.
Vorsichtig rollen wir zwischen einer Schafherde hindurch und fragen uns, wie weit oben wir uns noch befinden? Denn das Meer scheint recht nahe zu sein. Tatsächlich erreichen wir auch bald den ersten Parkplatz. Ab dort fällt die Straße steil bergab. So lassen wir das Auto erst einmal stehen und wollen laufen. Als sich einen Hammelsprung weiter die Sicht aufs Meer öffnet, erkennen wir, dass uns von der Küstenlinie noch gut 200 Höhenmeter trennen. Die Gegend gleicht der Insel Unst in Schottland, einzig die Puffins (Papageitaucher) fehlen. Bis nach unten kämen wir ja. Sollten wir später alles wieder hinauflaufen müssen, wird uns jedoch selbst im nordirischen Sommer das Licht ausgehen. Dafür blicken wir von hier auf einen weiteren Parkplatz direkt an der Küste, auf dem auch unsere Fahrzeugklasse vertreten ist. Zumindest die Fahrt bergab sollte damit gut machbar sein.
Mutig, fest entschlossen und ebenso fest an Lenkrad und Sitz geklammert, kurven wir die steile Straße hinunter bis zur Küste. Auf halben Weg informieren auf dem mittleren Parkplatz Schilder über die Serie Game of Thrones. Hier treffen sich die Brüder Stannis und Renly Baratheon, um Verhandlungen vor der drohenden Schlacht zu führen. Vom mittleren Parkplatz ist außerdem ein Spaziergang durch einen am Hang stehenden Birkenbruchwald bis zu einer Steinruine möglich. Beim unteren Parkplatz schließlich ist für unser Auto Endstation. Ab dort führt uns ein zunächst noch befahrbarer, im weiteren Verlauf aber zunehmend engerer und holpriger Weg an mehreren aus dem Boden ragenden Ziegelbauten vorbei. Während die dahinter liegenden Stollen inzwischen eingestürzt sind, zeugen die kubischen Eingänge vom Kohleabbau in dieser Gegend.
Auf dem Bauch liegend schlugen die Arbeiter damals in den niedrigen Stollen die Kohle ab und trugen sie in Körben an den Strand hinunter. Dort wurden sie auf Schiffe verladen und zur Hafenstadt Ballycastle und andere Häfen gebracht. Es war eine elendige Plackerei, die aus heutiger Sicht in einem westeuropäischen Land unvorstellbar erscheint. Doch mit dem Niedergang von Ballycastle als Industriestandort wurde auch die Arbeit in den Kohlestollen eingestellt. Das letzte Mal war die Bucht damit von Bedeutung, als Tyrion Lennister und Ser Jorah Mormont hier mit einem Boot anlegten, um im nächsten Moment vom Sklavenhändler Malko gefangengenommen zu werden. In der Game of Thrones-Serie ist die Murlough Bay als Sklavenbucht bekannt.
Die Stelle, bei der Tyrion und Jorah landeten, wird von mehreren großen Felsen umrahmt. Ansonsten gibt es dort nichts. Und doch steht in dieser Einsamkeit ein kleines, wenn auch verlassen wirkenden Häusle. Wir malen uns aus, wie es sich in der winzigen Hütte wohl bei einem Gewittersturm anfühlt. Wenn das Meer aufgepeitscht ist und die Regenmassen die Felsen herunter stürzen. Brrr. Wir kehren um und quälen wenig später unser Auto wieder nach oben. Seitlich blicken wir auf die Klippen des Fair Head. Dazu fehlt die Zeit. Wir werden wieder in diese Gegend kommen und uns dann die Zeit für eine Wanderung nehmen. Für heute jedoch haben wir genug gesehen und kehren zurück nach Ballycastle in die Central Bar. Es wird Zeit für ein Guinness.
Zwei Jahre später steuern wir ein zweites Mal die Murlough Bay an. Diesmal wirkt die Abfahrt weit weniger bedrohlich als bei unserer ersten Anreise. Während uns der letzte Besuch rechts in die Sklavenbucht führte, schlagen wir dieses mal den Weg links zum Drehort der Sturmlande ein. Dabei machen die Sturmlande ihrem Namen heute alle Ehre. Es stürmt und regnet, was das Zeug hält. Wir harren erst einmal im Auto aus, während die Schafe um uns herum unbeeindruckt am Grasen sind.
Schließlich lässt der Regen nach. Dafür hängt nun der Dunst hartnäckig in den Steilhängen der Murlough Bay. Wir fahren hinauf zum Knockbrack View Point. Bei der Game of Thrones-Infotafel startet ein Weg hinab zur Küste. Wir folgen diesem in die Einsamkeit. In einem Birkenbruchwald trotzen die Bäume dem irischen Wetter. Weniger hartnäckig waren die Bewohner auf dieser Seite der Murlough Bay. Wohnten hier nur Fischer oder auch Arbeiter der nahen Kohlenstollen? Wir wissen es nicht. Wohl aber wird die Ruine eines Hauses allmählich wieder von der Natur eingenommen. Lediglich eine Bank lädt noch zum Verweilen in der Kälte ein.
Es ist schon seltsam, dass die beiden Drehorte der Sklavenbucht und der Sturmlande so nah beieinander liegen. So herrscht in der Mittelalter-Saga in der Sklavenbucht ein trockenes und heißes Klima. Es gibt zwar Landwirtschaft. Doch diese wird nur durch ein umfangreiches Bewässerungssystem ermöglicht. An der Murlough Bay hingegen bekommen die Schafe reichlich Wasser ab. Die Gegend hier ist somit prädestiniert als Kulisse der Sturmlande. Sie sind eine der Hauptregionen von Westeros und werden durch das Haus Baratheon regiert. Benannt sind die Sturmlanden nach den wilden und häufigen Stürmen, die an der Küste wüten.
Über uns ragen die Klippen des Fair Head in die Höhe. Heute bleibt genügend Zeit, um dort eine Runde zu wandern. Wir machen uns auf und quälen das Auto ein weiteres Mal die steile Straße hinauf. Auf halber Höhe legen wir nochmals einen Stopp ein. Inmitten des Nebels gedenkt ein unscheinbares Memorial an Roger Casement. Er war ein britischer Diplomat, der sich später als irischer Nationalist für die Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien einsetzte. Für die Iren war er ein Nationalheld, während ihn die Briten als Verräter inhaftierten. Es nützte kein Gnadengesuch durch den Autor Sir Arthur Conan Doyle. Am 3. August 1916 wurde Casement im Alter von 51 im Pentonville-Gefängnis in London durch Hängen hingerichtet.