Der Mussenden Temple ist schon von weither gut sichtbar. Herrschaftlich thront er am Rande einer steilen Klippe. Eben diese Lage bildet eine ständige Bedrohung für den Tempel. Denn erodierte Klippen bilden kein stabiles Fundament. Heute sichern Felsanker das Gestein.
Fest verankert haben sich auch die Geschichten zu den Skandalen um den extravaganten 4. Earl of Bristol. Als Earl Bishop ließ er den Tempel für seine liebste Cousine nahe am Abgrund von Downhill Demesne erbauen. Leider starb sie noch vor der Fertigstellung des Bauwerks.
Durch das von steinernen Löwen bewachte Lion's Gate gelangen wir auf den Parkplatz von Downhill Demesne. Links davon umschließt eine Mauer einen für Irland typischen Walled Garden. Den üblichen Garten hat man sich allerdings weitgehend gespart. Stattdessen steht vor dem Eingang eine Luxus-Imbissbude. Direkt vor einer der beliebtesten Touristenattraktionen Nordirlands hat Al seine Coffee Bar aufgebaut. Fröhlich lacht er uns grüßend aus seinem Kiosk an. Da sind wir natürlich gerne zu Gast.
Al kredenzt einen richtig guten Milchkaffee. Dazu gibt es Blaubeermuffins. Lecker. Gemütliche Sitzecken bieten Platz für eine Aufwärmpause. Wir schmökern im Buch »Global Coffee Tour«. Es beschreibt uns Deutsche als bar zahlende Kaffeemuffel, die gerne mit dem Porsche zum Einkauf im Discounter fahren. Zusammen mit weiteren interessanten Beobachtungen ist also für entspannte Unterhaltung gesorgt. Doch auch sonst erleben wir Al's Coffee Bar als einen schönen Platz zum Verweilen.
Klatsch und Tratsch begleiten Arm und Reich schon seit jeher. Der Mensch liebt gute Geschichten. Und wenn sie wahr sind, umso mehr. Unter den Protagonisten ist der Adel allzu oft vertreten. Alleine er bietet reichlich Stoff für Skandale. Hinzu kommen schmutzige Geschichten, die Karrieren beenden, Regierungen stürzen oder sogar Selbstmorde auslösen. Der exzentrische Earl Bishop von Downhill gehörte zu den Herren, über den sich die Gesellschaft die unterschiedlichsten Meinungen bildete.
Bei den einen galt er als abscheulicher und grausamer Kerl. Andere empfanden ihn als einen angenehmen und ausgezeichneten Zeitgenossen. Er war gut belesen, wenn auch vielleicht etwas nutzlos. König Georg III. nannte ihn wiederum den »bösen Prälaten«. Tatsächlich verbirgt sich hinter Earl Bishop der 4. Earl of Bristol, Frederick Augustus Hervey. Neben seiner Angehörigkeit zum Adel genoss er den Ruf eines kultivierten Gentleman. Er war weit gereist und hatte einen feinen Sinn für die Kunst. Frederick war gebildet und ein Experte für Flora und Fauna.
Frederick war der dritte Sohn von John Harvey, Gründer des Familienvermögens und 1714 zum Earl of Bristol erhoben. Durch die Erbfolge war es unwahrscheinlich, dass Frederick jemals einen Titel erhalten würde. Deshalb wurde er 1767 zum anglikanischen Bischof von Cloyne geweiht und ein Jahr später zum Bischof von Derry. Allerdings überlebte er seine beiden Brüder und übernahm 1779 die Nachfolge als 4. Earl of Bristol. Neben seinen vorherigen Einkünften bescherte ihm das ein beträchtliches Vermögen. Der Earl Bishop liebte es extravagant und verschwenderisch.
Inspiriert von seinen Reisen durch Italien entwarf er das Downhill House. Mit Hilfe des Architekten Michael Shanahan entstand eine zweiflüglige Villa mit riesigen, geschwungenen Bastionen hin zum Meer. Leider hat das Innere des Hauses seinen ursprünglichen Charakter weitgehend verloren. An einem Sonntag im Mai 1851 brach darin ein Brand aus. Es entkernte das Haus vollständig. Das Feuer vernichtete die Bibliothek, über 20 Skulpturen, eine Kirchenorgel und einen Großteil der Kunstsammlung.
Einzig die meisten Gemälde konnten gerettet werden. Das Haus wurde in den 1870er Jahren restauriert. Während des Zweiten Weltkriegs quartierte sich die Royal Air Force beim Anwesen ein. Danach blieb das Downhill House lange Zeit sich selbst überlassen. Heute spazieren wir durch das Gerippe einer Villa. Sorgsam geschnittener, grüner Rasen ziert den Boden der einst herrschaftlichen Gemächer. Trotzdem verströmt die Ruine bis dato eine Spur von Eleganz.
Das eigentliche Ziel der meisten Besucher von Downhill Demesne ist jedoch der Mussenden Temple. Durch das Tor zwischen den beiden Bastionen eröffnet sich uns ein erster Blick auf das ehrfurchtgebietende Gebäude. Der Mussenden Temple ist wahrscheinlich das berühmteste Bauwerk des Earl Bishops. Sein Architekt Shanahan entwarf die Nachbildung des römischen Tempel von Vesta. Eigentlich hatte der Earl Bishop das Original nach England versetzen wollen. Doch der Papst hatte Einwände und verhinderte das Vorhaben. Als Konsequenz thront heute ein Gesamtbauwerk auf den Klippen über Downhill Beach, während die römische Vorlage verfallen ist.
Benannt ist der Tempel nach der Lieblingscousine des Earls, Lady Frideswide Mussenden. Frederick ließ den Tempel als Geschenk an sie bauen. Damals beherbergte es einen Teil seiner berühmten Bibliothek. Der Tempel sollte ein Ort sein, wo sich Lady Frideswide bei ihren Besuchen in Downhill Demesne zurückziehen konnte. Gerüchten zufolge sollte der Mussenden Temple allerdings eher der Lustbarkeit gedient habe. Der Earl Bishop soll seiner Cousine Frideswide ungebührlich nahe gestanden haben. Auch wenn sie die Gerüchte leugneten, konnten sich die beiden der entstandenen Schlammschlacht nicht entziehen. Dem Earl – seine Liebschaften brockten ihm den Namen »englischer Casanova« ein – waren die Gerüchte einerlei. Doch die Abscheu gegen den Skandal soll die Gesundheit der Lady Frideswide schwer getroffen haben. Der Tempel, der ihre Zuflucht hätte sein sollen, wurde ihr Denkmal, als sie 1785 starb.
Über die Mauer entlang der Klippe beim Mussenden Temple schauen wir hinab auf Downhill Beach. Vor uns tut sich ein Abgrund auf, der dem Tempel fast zum Verhängnis geworden war. Die Erosion der Steilküste hatte dazu geführt, dass der Mussenden Temple immer näher an die Abbruchkante heranrückte. Irgendwann drohte der Tempel mitsamt der Klippe ins Meer zu stürzen. Daher ließ der National Trust 1997 dicke Stahlseile zur Stabilisierung des Gesteins anbringen. So blieb der Tempel bestehen und erschien auch kurz in der Mittelalter-Sage Game of Thrones. In der zweiten Staffel dient Downhill Beach als Kulisse für Drachenstein. Melisandre verbrennt hier die Bildnisse der sieben Götter von Westeros. Gleichzeitig verkündet sie ihre düstere Botschaft »Die Nacht ist dunkel und voller Schrecken.« Ihre Prophezeiung zählt zu den bekanntesten Zitaten der Serie.
Trotz der Skandale und Weissagungen erleben wir Downhill Demesne als einen friedlicher Ort, der seinen Besuchern wunderbare Eindrücke bietet. Auf dem großen Rundweg über das Anwesen lässt es sich wunderbar verweilen. Neben dem Downhill House und dem Mussenden Temple kommen wir am Belvedere vorbei. Der Earl Bishop ließ es für seine Tochter Mary als Sommerhaus erbauen. Hier konnte sie die schöne Aussicht auf den tiefblauen Ozean genießen. Auf einem leichten Hügel steht das Mausoleum von des Bischofs Bruder Georg. Dort genießen wir einen letzten Rundblick über das Anwesen von Downhill, bevor die Fahrt weitergeht. Schon jetzt sind wir uns einig: Alleine der hiesige Besuch ist eine Nordirland-Reise wert.